Die fünfte Tagung der Österreichischen Islamkonferenz, die zugleich die abschließende des vergangenen Jahres gewesen ist, fand am 30. November 2024 unter dem Titel „Herkunft – Heimat – Identität“ statt. In drei Vorträgen und einer Podiumsdiskussion wurden diese Schlüsselbegriffe daraufhin befragt, inwieweit sie paradigmatische Formen muslimischer Zugehörigkeit sowohl in der Gegenwart wie der Geschichte zutreffend beschreiben. Die Spannungen und Widersprüche der drei Begriffe bildeten den Ausgangspunkt. So bezeichnet „Herkunft“ nicht einfach nur das Land oder die Region, aus der muslimische Migranten nach Österreich gekommen sind, das Wort kann auch das Herkunftsland der Eltern oder Großeltern bezeichnen, das in Österreich lebenden Muslimen nur noch durch Erzählungen oder Reisen bekannt ist; ebenso kann das Zielland der Migration zur neuen Herkunft werden. „Heimat“, noch stärker mit Phantasien, Sehnsüchten, aber auch Ängsten aufgeladen als „Herkunft“, kann angenehme, aber auch schreckliche Kindheitserinnerungen bezeichnen, aber auch etwas Ideelles wie religiöse Riten und Dogmen, oder wie die Sprache, die einem am vertrautesten ist (was bei Muslimen wiederum nicht unbedingt Arabisch sein muss). „Identität“ schließlich bezeichnet Formen von (religiöser, kultureller, ökonomischer) Zugehörigkeit, die ebenso gesellschaftlich auferlegt werden wie man sie scheinbar individuell wählen kann; Identität kann Verlässlichkeit und Sinn stiften, aber auch einengen und unterdrücken.
Diese Widersprüche thematisierte Mouhanad Khorchide in seinem Auftakt-Statement. Der von dem früheren deutschen Bundespräsidenten Christian Wulf formulierte Satz „Der Islam gehört zu Deutschland“ und seine verschiedenen Varianten („…zu Österreich /… zu Europa / …zum Westen“) setzten deshalb starke Emotionen frei, weil darin unbestimmt bleibe, wie der Begriff der Zugehörigkeit verstanden werde. In ihrem Herkunfts- wie in ihrem Aufnahmeland, so Khorchide, seien muslimische Migranten häufig gleichermaßen, wenn auch jeweils auf andere Weise, „Ausländer“, weshalb sich die religiöse Identität unabhängig von der wirklichen Vertrautheit mit dem Islam als Versuch anbiete, diesen Zwiespalt zu kitten. In der religiösen Praxis der verschiedenen Einwanderergenerationen zeigten sich zugleich Unterschiede. Während die erste Generation oft einen starken Bezug zu tradierten religiösen Ritualen habe, sich selbst aber für nicht besonders religiös halte, schätze sich die zweite und dritte Generation als religiöser denn die erste ein, obwohl empirisch erwiesen sei, dass ihre Zugehörigen seltener am religiösen Ritus teilnähmen als ihre Eltern und Großeltern. Die Fetischisierung der Religion als „Identität“ kompensiere in solchen Fällen die gebrochene oder abgerissene lebensgeschichtliche Vertrautheit mit dem Islam. In der Aufnahmegesellschaft gemachte Diskriminierungserfahrungen könnten überdies zu einer eher imaginär als über persönliche Erfahrung vermittelten Gemeinschaftsbildung zwischen unterschiedlichen Generationen von Migranten beitragen, die ansonsten lebensgeschichtlich gar nicht viel verbinde. All dies leiste der Instrumentalisierung tatsächlicher oder empfundener Diskriminierung im Namen eines islamischen Fundamentalismus sowie starrer kultureller Identitätskonstruktionen Vorschub.
Der historischen und zeitgenössischen Rolle, die das islamische Konzept der Umma im Kontext europäischer Begriffe von Staatsbürgerschaft für die Konstitution muslimischer Identität spielt, ging Ednan Aslan, Professor am Institut für Islamisch-Theologische Studien an der Universität Wien, nach. In der Frühgeschichte des Islam, so Aslan, dominierten vorstaatliche Gemeinschafts- und Sippenverbände, die sich zur Stiftung ihres Zusammenhalts auf mythische Vorfahren beriefen. Sie gliederten sich in Clans und Familien, deren Mitglieder nicht den gleichen sozialen Rang hatten. Schutz und Sicherheit hingen deshalb jahrhundertelang statt von einem qua Staatsbürgerschaft vermittelten Rechtsstatus der Individuen von deren jeweiliger Stammeszugehörigkeit ab. Durch das Konzept der Umma sei eine Veränderung dieser archaischen Gesellschaftsform herbeigeführt worden. Die Umma fungiere ebenso als Voraussetzung für die Entstehung fortgeschrittener Formen der Vergesellschaftung in muslimischen Ländern wie als Grundlage für spätere Staatsideologien und sei daher ein zutiefst widersprüchliches Gebilde. Die muslimische Gemeinschaft werde darin als beste vorstellbare Gemeinschaft gedacht und verfüge im Unterschied zu modernen westlichen Nationalstaaten über eine emotionale Bindung an ganz einen bestimmten Ort – Mekka. Daraus ergebe sich eine Verbindung zwischen geographischer und religiöser Identität, die in dieser Weise in anderen Weltreligionen, die sich ebenfalls auf ikonische Orte bezögen (Jerusalem), nicht existiere. Das Konzept der Umma habe immer eine emphatische regionale Bindung, was es erschwere, seine universalistischen Potentiale zu entfalten. Als zweite, komplementäre Form der bürgerschaftsähnlichen Gemeinschaftsstiftung auf islamischer Grundlage fungiere die Dhimma. Diese bilde den Rahmen für den Umgang mit Nichtmuslimen innerhalb der muslimischen Gemeinschaft; Nicht-Muslime hätten in ihr einen geschützten Status, unter Voraussetzung der Zahlung einer gizya (Kopfsteuer). Ein unausgetragener Widerspruch der Dhimma sei, dass ihr Konzept keinen Platz biete für den Umgang mit nichtarabischen Muslimen, denen in ihr ein ambivalenter Status als Muslime zukomme.
Die Grenzen der Umma und das mit ihr verbundene Verständnis islamischer Identität veränderten sich im Laufe der Geschichte, was sich in verschiedenen Konzepten der Unterscheidung zwischen islamischer und nichtislamischer Sphäre niederschlug. Im Rahmen dieser Entwicklung bildeten sich die verschiedenen „Häuser“ des Islam heraus, die das Verhältnis der Umma zu der sie umgebenden Gesellschaft allegorisierten: Dar al Islam (Haus des Islam), Dar al Harb (Haus des Krieges), Dar al Sulh (Haus des Friedens), Dar al Hudna (Haus der Ruhe), Dar al Ahd (Schutzgebiet) und Dar al Amn (Haus der Sicherheit). Die Entwicklungen innerhalb der islamischen Rechtslehre führten parallel mit der Konzeptualisierung dieser „Häuser“ zur Differenzierung zwischen Bürgern und Ausländern bzw. Nichtbürgern im Kontext der Staatsbürgerschaft und auf koranischer Grundlage: Die islamische Staatsbürgerschaft verfüge immer über eine weltliche und zugleich eine religiöse Dimension, was die Möglichkeiten der Säkularisierung ebenso hemme wie den innermuslimischen Streit darüber, unter welchen Bedingungen Muslime außerhalb islamischer Länder leben dürften. Eine „dynamische Identität“ (Edward Said) entstehe jedoch allererst durch die Auseinandersetzung zwischen eigener Tradition, dem kulturellen Umfeld und dem Selbst. Zu diesem Zweck müssten Grenzen überschritten und Zugehörigkeiten reflektiert statt nur gelebt werden.
Shama Ajoubi, Studentin am Institut für Islamisch-Theologische Studien der Uni Wien, referierte ausgehend von eigenen biographischen Erfahrungen über die Frage, welche historisch und lebensweltlich unterschiedlichen Facetten ihre „Identität“ ausmachten. Für Menschen mit Migrationsgeschichte stelle sich diese Frage häufiger im Leben als für andere. Das Gefühl der Zugehörigkeit (zu unterschiedlichen Kulturen und Gesellschaften) sei als zentraler Aspekt der individuellen Identitätsfindung anzusehen. Muslimische Migranten stießen auf Ablehnung von beiden Seiten, sowohl in der Herkunftsgesellschaft als auch in der Aufnahmegesellschaft. Somit sei die Forderung an junge Muslime, sich zu integrieren und anzupassen, in solcher Pauschalität erfahrungslos und wirklichkeitsfremd, da es gerade um die Frage gehe, auf welche Weise man sich an welche Kultur und Gesellschaft aus welchen Gründen anpassen könne oder nicht. Für junge Muslime stelle die Religion angesichts dessen einen nur vermeintlich stabilen Anker bei der Identitätssuche dar, da sie scheinbar nicht an Herkunft geknüpft, sondern eine persönliche Angelegenheit sei. Genau dies erweise sich aber in der Lebenspraxis sowohl gegenüber der Herkunfts- wie gegenüber der Aufnahmegesellschaft als illusorisch, überall werde das religiöse Bekenntnis immer auch als soziales und öffentliches gewertet. Das Gefühl der Ablehnung werde auch durch die Medien verstärkt – es komme so zu einer Stigmatisierung durch den Sensationsjournalismus wie auch zu einer Stigmatisierung innerhalb der eigenen Community. Gesellschaftspolitische Initiativen wie „Sag’s multi“ (eine Wettbewerbsplattform des ORF zur Förderung von Mehrsprachigkeit) könnten demgegenüber als Gelegenheit angesehen werden, die durch die eigene Migrationsgeschichte geschürte Identitätskrise abzuwenden und problematische Erfahrungen produktiv zu wenden.
Sama Maani, Psychoanalytiker und Autor aus Wien, kritisierte in seinem Vortrag einleitend die häufige Rede vom „Sprechort“ als Symptom der repressiven und identitären Aspekte der sogenannten Identitätspolitik. Aus der Rede vom „Sprechort“ ergebe sich die Frage, wem man zuzuhören und zuzustimmen habe und welcher Ort beim Sprechen über „islamistischen Antisemitismus“ der richtige sei: Wären hierbei Islamisten, Antisemiten die richtigen Redner? Warum sollte er, Maani, selbst den richtigen Sprechort haben? Weil er Iraner sei? Eine vor nicht allzu langer Zeit durchgeführte Umfrage habe ergeben, dass 70 Prozent der Iraner keine schiitischen Muslime, 60 Prozent überhaupt keine Muslime seien. Hieran würde die Fragwürdigkeit des Konzepts identitätspolitischer „Sprechorte“ deutlich. Die Ineinssetzung der Herkunft, des kulturellen und sozioökonomischen Hintergrunds, mit dem Individuum sei immer falsch – Religion sei keine einem Menschen an und für sich zukommende Eigenschaft, sondern etwas Fluides, historisch Wandelbares. Der Diskurs der Antirassisten könne solcherart auch keine Kritik an rassistischer Zuschreibung leisten, denn die Identifizierung der Muslime mit dem Islam sei selbst bereits ein kulturalistischer Kurzschluss. Auch Menschen, die sich selbst primär unter dem Aspekt der Zugehörigkeit zum Islam sähen, verfügten über davon unterschiedene Eigenschaften (Klasse, Geschlecht, Begehren, politische Anschauung). Solche Unterscheidung zwischen Individuum und Glaubensbekenntnis sei für jede Kritik unhintergehbar, während die Zuschreibung des Glaubensbekenntnisses als Natureigenschaft den Menschen auf einen Teilaspekt seiner selbst reduziere. „Islamophobie“ und „antimuslimischer Rassismus“ seien deshalb irreführende Begriffe.
Die Emanzipation des Menschen von der Religion sei konfessionsübergreifend die Voraussetzung der Bekämpfung von religiösem Hass. Weil Antirassisten die Identitätsvorgaben der Rassisten ex negativo zementierten, spiele der Antirassismus dem Rassismus in die Hände. „Antimuslimisch“ könne auch eine Religionskritik genannt werden, die sich keiner rassistischen Denkformen bediene, denn „Muslim“ bezeichne keine ethnische, sondern eine religiöse und kulturelle Zugehörigkeit. Gegen Ende des Vortrages behandelte Maani den „promuslimischen Antirassismus“ am Beispiel der SPÖ-Politikerin und Rechtsanwältin Muna Duzdar und dem Umgang linksliberaler Medien mit ihr. Duzdar hatte u.a. geäußert, in Österreich habe der Primat muslimischer Integration ihrer Meinung nach absoluten Vorrang vor „Neuzuzug“, und das Kopftuch insbesondere im öffentlichen Dienst, und vor allem im Schulbereich sei unerwünscht. An der Verächtlichmachung Duzdars durch die österreichische Linke habe sich gezeigt, wie stark deren kulturalistische Identitätspolitik im Widerspruch zu den realen Erfahrungen säkularer und kritischer Muslime stehe.
In der abschließenden Podiumsdiskussion, an der neben Mouhanad Khorchide und Sama Maani der Islamwissenschaftler Abdel Hakim-Ourghi, der Jurist Imet Mehmedi, Fariza Bisaeva, Studentin am Islamisch-Theologischen Institut an der Uni Wien sowie der Blogger und Medienberater Rusen Timur Aksak teilnahmen, ging es unter der Überschrift „Heimat: Zwischen Abschied und Bewahrung“ um die sehr verschiedenen Formen von Abschiednahme und Erinnerung, die die Migrationsbiographien in Österreich lebender Muslime und Musliminnen prägen. Deutlich wurde, dass das, was jeder individuell als seine Heimat beschreiben würde, sich aus sehr verschiedenen, zueinander heterogenen Momenten zusammensetzt: nicht nur aus tatsächlichen, sondern auch aus nur mitgeteilten Erinnerungen, Erzählungen, Phantasien und (enttäuschten wie eingelösten) Hoffnungen, dass also der Begriff der Heimat weniger noch als der der Herkunft sich auf empirische Erfahrungen und lebensgeschichtliche Tatsachen reduzieren lässt. Der Begriff der Identität wurde hingegen, auch wenn er als Element zur Stärkung von biographischem und politischem Selbstbewusstsein nützlich sein könne, wegen seiner Tendenz zur Fixierung und Erstarrung lebendiger Erfahrung kritisch gesehen – ebenso wie die Identitätspolitik, die ihn zum Programm erhebt.