Die vierte Tagung der Österreichischen Islamkonferenz fand am 5. Oktober 2024 in Wien unter dem Titel „Islam und Pluralismus“ statt. Der Begriff des Pluralismus fungiert in der politischen Theorie und Pädagogik sowie in der Integrationspolitik häufig als eher ungenaue Bezeichnung für ein Verständnis der Kulturen und Religionen, das die Vielfalt anstelle der Einheit betont. Auf der Tagung sollte der Begriff hingegen in seiner Problematik entfaltet werden, und zwar in doppelter Weise. Zum einen sollte das Spannungsverhältnis in den Blick gerückt werden, in dem pluralistische Gesellschaften zum Islam stehen. Zum anderen sollten anhand dieses Spannungsverhältnisses die Schwierigkeiten des Begriffs selber zum Gegenstand gemacht werden. Zu diesem Zweck ging die Tagung der Bedeutung des Pluralismus in säkularen Gesellschaften nach. Insofern die Säkularisierung der Religionen die Herabstufung der jeweiligen Glaubensbekenntnisse und der damit verbundenen Religionsausübung zur Privatangelegenheit beinhaltet, setzt sie den Pluralismus voraus: Keine Religion kann in einer säkularen Gesellschaft Alleingültigkeit als theologischer, moralischer oder alltagspraktischer Wertmaßstab beanspruchen. Insofern der Pluralismus der Religionen aber auch umgekehrt werteneutrale Toleranz gegenüber den jeweiligen Glaubensinhalten impliziert, begünstigt die pluralistische Gleich-Gültigkeit einen Relativismus, der säkulare Gesellschaften wiederum schwächen kann: Pluralistische Gemeinwesen neigen dazu, den Universalismus, für den alle monotheistischen Weltreligionen auf je eigene Weise die ihnen innewohnende Wahrheit verkörpern, nicht ernst zu nehmen und ein indifferentes Nebeneinander der Religionen zu befürworten.
Vor diesem Hintergrund fragte die Tagung nach der Säkularisierungsfähigkeit des Islams. Mouhanad Khorchide ging in seiner Einführung auf den säkularen Staat als Verantwortungsträger für den islamischen Religionsunterricht ein. Am Schwanken des islamischen Religionsunterrichts zwischen einer dem säkularen Staat unterstellten Form der Pädagogik und der kulturalistischen Absonderung gegenüber dem säkularen Schulalltag illustrierte er, wie sich im Schulunterricht das Spannungsverhältnis zwischen Islam und Pluralismus zeigt. Elham Manea, Titularprofessorin für Politikwissenschaft an der Universität Zürich, skizzierte daraufhin in ihrem Vortrag den Umgang zeitgenössischer islamischer Strömungen mit Formen der Blasphemie, an dem sich deren Pluralismusfähigkeit oder -unfähigkeit konkret aufweisen lasse. Manea zufolge würden in nominell säkularen Staatswesen immer häufiger, unter dem Vorwand des Schutzes der positiven Religionsfreiheit, fundamentalistische Haltungen hofiert und de facto unter den Schutz von Sonderrechten gestellt. Der Begriff der Islamophobie werde in westlichen Staaten immer wieder als Kampfbegriff zur Durchsetzung solcher Sonderrechte verwendet. Mittels seiner Indienstnahme unter dem Vorwand des Minderheitenschutzes näherten sich säkulare Staaten aus Angst vor dem Vorwurf der Minderheitendiskriminierung den Dogmen der Blasphemie-Gesetze in manchen islamischen Staaten an. In vielen islamischen Staaten dienten Blasphemie-Gesetzgebungen, im Unterschied zu kirchenrechtlichen Blasphemie-Gesetzen z. B. im Katholizismus, der Verhinderung von Säkularisierung durch Verallgemeinerung konservativer Verständnisse des Islams als immer gültige Gesetze. Als Beispiel führte sie Saudi-Arabien an. Die dortige Blasphemie-Gesetzgebung („Beleidigung des Islam“ als Straftatbestand) diene der Machtsicherung des Regimes, die Bestrafung jeglicher Zuwiderhandlung werde als religiöse, aber auch als gesamtgesellschaftliche Notwendigkeit dargestellt, wodurch der Islam als religiöse und weltliche Gesetzgebung festgeschrieben und Säkularisierungstendenzen beschnitten würden. Dass mit dem Wechsel des Herrschaftspersonals in Saudi-Arabien auch eine wechselnde Rigidität der Auslegung der Blasphemie-Gesetze einhergehe, zeige, dass religiöse Gesetze als Vorwand zur Zementierung weltlicher Herrschaft herangezogen würden.
Maneas zweites Beispiel war die Islamische Republik Iran. Auch hier fungierten die Blasphemie-Gesetze als Mittel der Machtsicherung. Der festgeschriebene „Schutz islamischer Werte“ spiegle weniger noch als in Saudi-Arabien einen im Alltag bestehenden mehrheitlichen Konsens in der Bevölkerung wider, die sich nicht selten als eher säkular verstehe. Überdies diene die Blasphemie-Gesetzgebung der Aushebelung des religiösen und kulturellen (auch innerislamischen) Minderheitenschutzes, der vom Regime abgelehnt werde. Vor diesem Hintergrund sei auch die Durchsetzung des Kopftuchzwangs im Iran zu verstehen, der eine autoritäre Defensivreaktion auf wachsende säkulare Tendenzen in der Bevölkerung sei. Der „Schutz islamischer Werte“ diene so dem Zweck, einen realgesellschaftlich längst bestehenden Religions- und Wertepluralismus zu begrenzen und zu sanktionieren. Zu den Begriffen der Islamophobie und Muslimfeindlichkeit hielt Manea fest, dass es zwischen beiden Unterschiede gebe: Der Vorwurf der Islamophobie diene der Absicherung des radikalen Islams gegen Kritik, bis hin zur Verharmlosung der Zusammenarbeit mit islamistischen Gruppen, die von manchen islamischen wie auch westlichen politischen Bewegungen betrieben werde. So weigerte sich 2014 die britische National Union of Students, die Morde des IS zu verurteilen, aus Angst, als islamophob dargestellt zu werden. Der Begriff der Muslimfeindlichkeit sei hingegen besser geeignet, in säkularen Gesellschaften tatsächlich bestehende Feindseligkeiten gegenüber Muslimen zu beschreiben, weil er terminologisch eher an den Begriff der Fremdenfeindlichkeit anschließe als eine vorgeblich pathologische Angst vor dem Islam zu bezeichnen.
Der Vortrag von Armin Eschraghi, Lehrbeauftragter für Kultur und Religion des Islam an der Goethe-Universität Frankfurt am Main, befasste sich mit der wechselvollen Geschichte der Säkularisierung des Islams im Iran und bestätigte in mancher Hinsicht Maneas Thesen. Eschraghi deutete aktuelle politische Entwicklungen im Iran als Ausdruck eines doktrinären Rückzugsgefechts des iranischen Regimes gegenüber einer Gesellschaft, deren zunehmende Pluralität und Säkularität den traditionalistischen islamischen Herrschaftsanspruch schwäche. Der Iran inszeniere sich aus solcher realen Schwäche heraus als Führer der islamischen Nationen auf einer „Achse des Widerstands“ (bestehend aus Hamas, Hisbollah, Huthis) und als Speerspitze zur Befreiung Palästinas. In dieser Vorstellung werde die Islamische Revolution 1979 als irreversible Zäsur angesehen, die durch aktuelle Entwicklungen nicht infrage gestellt werde. Die damalige Zustimmung von mehr als 98 Prozent der iranischen Bevölkerung zur Errichtung der Islamischen Republik werde dabei als mythisches, überzeitliches Legitimationsnarrativ herangezogen. Die religiösen und kulturellen Minderheiten – die keine Rolle spielen dürften – würden dabei, so das Narrativ, von der Islamischen Republik geschützt. Jedoch gebe es faktisch im Iran nur drei staatlich anerkannte Minderheiten (Juden, Christen, Zoroastrier, wobei die Juden zahlenmäßig kaum noch eine Rolle spielen). Gruppen wie die Baha’i seien hingegen weitgehend rechtlos. Gleichzeitig würde christliche und sonstige außerislamische Missionierung als Kapitalverbrechen eingestuft. Die Baha’i treffe die Diskriminierung besonders stark, denn sie blickten auf eine lange Geschichte der Verfolgung zurück; ihre Zahl im Iran umfasse einige 100.000 Menschen.
Innerhalb des Irans verteilen sich Eschraghi zufolge die Minderheiten wie folgt: Sunniten machten offiziell ca. zehn Prozent der Bevölkerung aus, die Staatsreligion sei die 12er-Schia, bzw. eine von mehreren ihrer Rechtsschulen. Etwa die Hälfte der Bevölkerung im Iran bestehe aus Kurden und Aseris. All das spiegele eine demographische Zersplitterung und Pluralisierung, die staatlicherseits verleugnet werde. In einer repräsentativen Befragung von 2020 bekennen sich nur 40 Prozent der iranischen Bevölkerung zu einer Form des Islams (32 Prozent als Schiiten), 46,6 Prozent bezeichnen sich selbst als Atheisten, Spirituelle oder Agnostiker, 56 Prozent lehnen eine religiöse Unterweisung in Schulen ab, und nur 14 Prozent der Befragten sind der Meinung, dass religiöse Gesetze in staatliche Gesetzgebung einfließen sollten. Diese Studie von Forschern der Universitäten Tilburg und Utrecht nutzte digitale Medien, um mehr als 50.000 Teilnehmer aus dem Iran anonym zu erreichen, wodurch sie iranische staatliche Kontrollen umging und eine breite demographische Basis abdeckte. Ergebnisse der Studie spiegeln die Ansichten von alphabetisierten iranischen Einwohnern über 19 Jahren wider, die ca. 85 Prozent der erwachsenen Bevölkerung ausmachten. Das iranische Regime behauptete daraufhin, dass die Befragung ein zionistisches Komplott gewesen sei. Dennoch zeige sich, so Eschraghi, immer deutlicher, dass das Regime kaum noch Mobilisierungspotential in der Bevölkerung habe; seine Rhetorik werde von großen Teilen der Bevölkerung immer stärker abgelehnt. 50.000 von 75.000 Moscheen seien mittlerweile aufgrund fehlender Besucher geschlossen. Eschraghi beschrieb den heutigen Iran so als eine Gesellschaft, deren offiziell-politischer Dogmatismus die tatsächlich stattfindende Säkularisierung der Gesellschaft verleugne und überblende.
Der Vortrag von Abdel-Hakim Ourghi, Islamwissenschaftler an der Pädagogischen Hochschule Freiburg, behandelte die Rolle des Islams im säkularen Staat. Es gebe in den muslimischen Communities der westlichen Staaten eine kontroverse Debatte über das Verhältnis zwischen Moderne, religiöser Tradition und Säkularisierung: Konservative wollten zur Reinheit des Islams zurückkehren, Liberale wollten die Trennung von Religion und Politik und eine Reform des Islams. Das säkulare und das antisäkulare Lager ständen sich nicht nur innerhalb islamischer Staaten, sondern – mitunter feindseliger – im Westen selbst gegenüber. Seit der Verkündung des Islams gelte die Sunna als dessen Quintessenz, die Lehren des Korans würden als überzeitlich gültig angesehen und immer noch mehrheitlich gegen historisierende und hermeneutische Kritik abgedichtet. Säkularisierung werde in der gesamten islamischen Welt abgelehnt oder gar mit Atheismus und dem Abfall vom Glauben gleichgesetzt. Juden und Christen würden in diesen Strömungen des Islams als Ungläubige gelten, nur die islamische Rechtsprechung und die ihr folgenden Regierungen seien legitim. Es gebe aber einen Unterschied zwischen dem mekkanischem und dem medinensischem Koran, sowie zwischen dem politischen und juristischen Koran. Diese Unterscheidung biete Ankerungspunkte für eine künftig zu leistende Säkularisierung und Historisierung der islamischen Überlieferung. Der mekkanische Koran könne als ethisch-humanistischer Koran angesehen werden, der Meinungs- und Glaubensfreiheit, Verständigung mit Ungläubigen und Anerkennung der Glaubens- und Weltanschauungspluralität umfasse. Demzufolge sei eine säkulare Islamauslegung aus dem mekkanischen Koran ableitbar; dieser Koran müsse in der theologischen und historischen Arbeit erinnert und wiederbelebt werden, damit Muslime sich vom kriegerischen und sich gegen die Säkularisierung sperrenden Teil des medinensischen Koran verabschieden könnten.
Säkularisierung bedeute, betonte Ourghi abschließend, keine Ablehnung von Religion, vielmehr sei sie als Möglichkeit aufzufassen, einen religiösen Pluralismus zu verwirklichen, der sich nicht im Relativismus der Glaubens- und Bekenntnisformen erschöpfe. Säkularisierung und westliche Werte seien nicht verhandelbar, eine unabgeschlossene oder gescheiterte Säkularisierung bedeute ein Scheitern der muslimischen Integration in den westlichen Gesellschaften. Aufgabe des säkularen Staates sei deshalb zuvorderst der Schutz der Bevölkerung (der muslimischen wie der nichtmuslimischen) vor dem politischen Islam, der genau jene Säkularisierung hintertreibe. Pluralismus dürfe Ourghi zufolge nicht als Scheinargument herhalten, um unter dem Deckmantel religiöser Toleranz säkulare Gesellschaften zu schwächen. Er müsse nicht nur innerhalb westlicher Gesellschaften gegenüber dem Islam gelten, vielmehr müsse der Islam selbst sich gegenüber säkularen Gesellschaften öffnen.
In den anschließenden beiden Podiumsdiskussionen, an denen neben den Vortragenden Fatma Akay-Türker, Obfrau der Muslimischen Frauengesellschaft in Österreich (MFGÖ), Fariza Bisaeva, studentische Mitarbeiterin am Institut für Islamisch-Theologische Studien, Imet Mehmedi, Jurist mit den Forschungsschwerpunkten Religion und Recht, Ebrahim Afsah, Assoziierter Professor für Völkerrecht an der Kopenhagener Universität, sowie Mouhanad Khorchide teilnahmen, wurde über die in den Vorträgen behandelten Gegenstände hinaus die Frage diskutiert, wie sich eine Öffnung des Islams gegenüber Säkularismus und Pluralismus in der Übersetzung und kritischen Kommentierung des Korans niederschlagen könne. Einigkeit bei den Diskutanten bestand darin, dass die Fixierung auf das Arabisch des Korans, das von vielen gläubigen Muslimen nachgesprochen werde, ohne verstanden zu werden, einen wichtigen Anteil an der Selbstabschottung des Islams gegenüber Säkularisierung und Pluralismus habe. So wichtig es für eine theologisch-hermeneutische Korankritik sei, die arabischen Sprachen der Überlieferung zu kennen, so wichtig sei es für heutige muslimische Gläubige, die in den westlichen Staaten nicht selten gar kein Arabisch sprächen, auf Übersetzungen zurückzugreifen, um sich in ein reflexives Verhältnis zu dem zu setzen, was sie lesen und nachsprechen. Übersetzung, sprachliche Öffnung, Kommentierung und Paraphrasierung der islamischen Überlieferung seien konstitutive Voraussetzung ihrer Säkularisierung.